20. Mai bis 18. Juni 2021
Linzer Innenstadt
Was wird in einer Stadt aufbewahrt, gepflegt und in Erinnerung behalten? Was gerät in Vergessenheit? Was möchte man am liebsten vergessen haben? Was lässt sich nicht vergessen? Und was „wäre, wenn“ sich das Geschehen in einer Stadt anders entwickelt hätte? Welche Funktionen hat überhaupt das Vergessen und das Sich-Erinnern?
Lehrende des neuen BA-Studiengangs Kulturwissenschaften aus drei Linzer Universitäten setzen sich mit diesen Fragen auseinander und machen uns mit unbeachteten Orten der Stadt Linz bekannt. Dabei werden auch unterschiedliche kulturwissenschaftliche und künstlerische Ansätze erkennbar, welche die Vielfalt der Fächer in dem Studiengang kennzeichnen.
Amnesien können auf unterschiedliche Weisen ans Licht gebracht werden. So wie bei einem Palimpsest lassen sich die verschiedenen Schichten einer Stadt nicht immer einfach aufdecken. Oft ist es wahrscheinlich einfacher, diese mit neuen Schichten zu beschreiben. Aber was geschieht dann – und unter welchen Umständen treten die älteren Nutzungsspuren wieder ans Licht?
Die nomadische Ringvorlesung findet von Mai bis Juni (donnerstags und freitags von 16 bis 18:30) statt und wird draußen an den ausgewählten Orten stattfinden.
Studierende der BA-Kulturwissenschaften haben in der Ringvorlesung die Möglichkeit sich einen Überblick über die vorhandenen Fächer zu verschaffen und mit den Lehrenden ins Gespräch zu kommen.
Leistungsnachweis: 3 ECTS können erworben werden durch zwei Protokolle zu ausgewählten Sitzungen der Ringvorlesung.
Die Vorlesung wurde angeleitet und moderiert von Prof. Dr. Amalia Barboza und Prof. Dr. Marcus Gräser.
· Marcus Gräser (JKU): Zwischen Dominanz und Unterdrückung: Protestantismus in Linz. Orte: Das Landhaus, politische Zentrale der Protestanten/ Luther Kirche an der Hauptstraße
Das Landhaus und die Martin Luther-Kirche an der Landstraße erinnern heute an die Präsenz des Protestantismus in Linz. Das Landhaus war bis in das frühe 16. Jahrhundert hinein, als die oberösterreichischen Stände protestantisch waren, die Schaltzentrale der Herrschaft. Im heutigen Landhaus befand sich auch die evangelische Landschaftsschule, in der Johannes Kepler, der Namenspatron der Universität Linz, wirkte. Nach der katholischen Gegenreformation durften erst im 19. Jahrhundert wieder einige evangelische Kirchen gebaut werden - zurückgesetzt von der Straße, was man sich am Beispiel der Martin Luther-Kirche gut vergegenwärtigen kann.
· Martina Gugglberger (JKU): Frauengefängnisbaracke Kaplanhof. Zum Denkmal-Projekt "Frauen im Widerstand gegen das NS-Regime in Oberösterreich". Ort: Nietzschestraße 33.
Am Eingang des Stadtpolizeikommandos in Linz in der Nietzschestr. 33 erinnert eine
Glastafel an Frauen, die während der NS-Herrschaft auf dem dahinterliegenden Gelände im sogenannten Frauengefängnis Kaplanhof in Baracken untergebracht waren. Bei einem Bombenangriff im Ende März 1945 starben mehr als 100 der inhaftierten Frauen, darunter auch zahlreiche Widerstandskämpferinnen. Die Gedenktafel wurde von der Stadt Linz im Jahr 2015 errichtet. Für das Jahr 2022 hat das Land Oberösterreich nun ein Denkmal in Auftrag gegeben, das zukünftig am OK-Platz Frauen gewidmet ist, die Widerstand gegen das NS-Regime geleistet haben.
· Gudrun Rath, Nils Olger, Renée Winter (Kunstuniversität Linz): Die Stadt in der Grotte. Ort: Hauptplatz 6
Nach 1945 wird die Umgestaltung des Linzer Hauptplatzes nach Plänen aus der NS-Zeit fortgesetzt und die Brückenkopfgebäude errichtet. Zur gleichen Zeit wird in der Grottenbahn auf dem Pöstlingberg eine Miniatur des Hautplatzes errichtet, der diesen in seinem Zustand vor der NS-Demolierung zeigt. Ausgehend von dieser Beobachtung analysiert der Beitrag populärkulturelles Vergessen der NS-Geschichte im Zentrum und auf dem Berg.
· Siegfried Fruhauf (Kunstuniversität Linz): „Wo ich den Außerirdischen sah.“ Ort: Waltherstraße 11.
Wie weit reichen die Schatten von der Kinoleinwand hinaus in den öffentlichen Raum? Wo ist „das Filmische“ in einer Stadt? Diesen Fragen versuche ich in meinem Vortrag, und in meiner Lehrveranstaltung gemeinsam mit Studierenden, nachzugehen. Wobei natürlich erst einmal zu klären wäre, was denn „das Filmische“ eigentlich ist.
· Jasmin Mersmann (Kunstuniversität Linz): Mapping Domgasse. Passagen zwischen Linz und China. Orte: Gedenktafel für Xaver Erobert Fridelli am Alten Dom, danach: Jesuitenseminar gegenüber, Abschluss: Eingang zur Kunstuniversität (ehem. Jesuitenkolleg)
Wie sind Linz und Kanton, Post und Kartographie, Wissen und Macht miteinander verbunden und was hat die Kunstuni damit zu tun? Ein kurzer Spaziergang von der Gedenktafel an den Jesuitenmissionar Xaver Fridelli (1673–1743) zur Domgasse 1 vermisst das Territorium, in dem wir uns täglich bewegen.
· Angela Koch / Sabrina Kern (Kunstuniversität Linz): Entmerkte Denkmäler im Volksgarten. Ort: Franz Stelzhamer-Denkmal im Volksgarten.
Der Linzer Volksgarten liegt an der Grenze zwischen der Altstadt und den sozial schwächeren Stadtvierteln südlich der Bahngleise. Hier trifft das „Arbeiter:innen-Migrant:innen-Linz“ auf das bürgerliche Linz. Die Denkmäler im Volksgarten sind Relikte des beginnenden 20. Jahrhunderts und repräsentieren das Bürgertum dieser Zeit mit seinen patriarchalen, volksdeutschen und antisemitischen Ideen: das Stelzhamer-Denkmal, die Büste Friedrich Ludwig Jahns und der Brunnen „Freude am Schönen“. Auch wenn sie sich scheinbar „unseren Sinnen entziehen“ (Musil), so verdient das, was sie repräsentieren eine kritische Diskussion und Neubewertung.
· Andreas Telser & Martina Resch (Katholische Universität): „Lost & Found“ Garten – Grenzgänge. Ort: Das "verlassene" Areal des ehemaligen Kapuzinerklosters, Kapuzinerstrasse 38.
Gärten sind seit jeher übercodierte Orte, die sowohl für die Kulturwissenschaften als auch für die Theologie von großem Interesse sind. "Grenzgänge" zwischen den Disziplinen und "Grenzgänge" am konkreten Garten vor Ort: Wer darf hinein und wer bleibt draußen?
· Aloisia Moser (Katholische Universität): Wittgenstein und die Zerzeigung in der Steingasse. Ort: Star Inn Hotel, Steingasse 4.
Wittgenstein fragt in den Philosophischen Untersuchungen: "Wie kommt es, dass der Pfeil zeigt?" und sagt gleich darauf: "dieses Zeigen ist nicht ein Hokuspokus, welches nur die Seele vollziehen kann." In meinem Vortrag beschäftige ich mich mit der Zerzeigung, einer Form von ästhetischen "Ordnung" im Material die im Gegensatz zur logischen Ordnung im Begrifflichen steht.
· Amalia Barboza (Kunstuniversität Linz): „Wie komme ich zu Kraus und Schober“ Strategien für ein erweitertes Gedächtnis. Ort: Domgasse 16.
Die Straßen von Linz sahen um 1934 ganz anders aus. Am Hauptplatz und an der Domgasse strahlte das Kaufhaus Kraus und Schober. „Wie komme ich zu Kraus und Schober“ steht in dem Jubiläumskatalog von 1934. Wie könnten wir heute auf diese Vergangenheit blicken und die Bilder dieser Zeit in der Gegenwart wirken lassen? Wie entsteht durch Montagen ein erweitertes Gedächtnis, welches uns ermöglicht, nicht die Vergangenheit wieder zu beleben, aber diese zu aktivieren? So dass die Vergangenheit eine Wirkung in der Gegenwart erzielt.
· Ilaria Hoppe (Katholische Universität): Das „Hitler-Grafitti“ am Fadinger-Gymnasium. Diskurse und Kontroversen. Ort: Schulhof des Fadinger-Gymnasiums, Bethelehmstr. 13-15.
Im Sommer 2020 führte der Graffiti-Künstler Erich Willner aka Shed ein Mural an der Fadinger-Schuler aus, welches das berühmte Klassenfoto mit dem jungen Adolf Hitler zeigte. Die Darstellung erregte eine kontroverse Debatte, die schließlich zur Übermalung führte. Diese immer noch sichtbare Palimpsest wirft Fragen auf, nach dem Umgang mit dem 'schweren Erbe', historischer Wahrheit und künstlerischer Freiheit.
· Mariel Rodriguez (Kunstuniversität Linz): Autobiografie und Stadt. Marlen Haushofers Erfahrungen aus den Internatsjahren. Ort: Ursulinenhof.
1930 wurde die Schriftstellerin Marlen Haushofer in das Internat der Ursulinen in Linz geschickt, um als Hausfrau sozialisiert zu werden. Wie sie selbst in ihrem autobiografischen Roman "Himmel der nirgendwo endet" (1966) beschreibt, waren die Jahre in diesem Haus furchtbar kalt und traurig. Sie ist von einer schönen, sinnlichen Kindheit auf dem Land in diesen Nicht-Ort, das Internat, gezogen. Im Rahmen von "Amnesien der Stadt Linz" wird die Lektüre von Fragmenten dieses Romans vor den Toren des ehemaligen Linzer Mädcheninternats als eine Übung vorgeschlagen, um über die Zusammenhänge von Vergessen, Erinnerung, Autobiographie und Stadt nachzudenken.